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Forschungsprojekt #MOIN - Ein Interview mit Nils Hase

Mathematik gilt häufig als sperrig und stößt auf wenig Interesse in der Öffentlichkeit. Dabei findet sich im Alltag sehr viel Mathematik. Das will das Projekt „#MOIN“ (MOdellregion INdustriemathematik) zeigen. Nils Hase, der das Vorhaben für die Bremerhavener Wirtschaftsförderung BIS betreut, erläutert, wie das Projekt den Ruf der Mathematik verbessern will.

26.10.2023
Autor: Christoph Bohn, Business & People, Ausgabe 3/2023

Bei Mathematikern denken viele an vergeistigte Menschen, sie gelten als Nerds. Wie ist das bei Ihnen? Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich habe mich eigentlich schon in der Schule für Naturwissenschaften interessiert, besonders aber für Mathe. Deswegen hatte ich das Fach auch als Leistungskurs. Das führte zum Studium der Technomathematik, in dem ich Physik und Informatik als Nebenfächer gewählt habe. An der Mathematik gefällt mir, dass sie eine exakte und universelle Wissenschaft ist. Man kann ähnliche Verfahren in verschiedensten Anwendungen einsetzen und damit komplexe Zusammenhänge beschreiben sowie verblüffend genaue Aussagen treffen. Ungenauigkeiten kommen dabei nicht aus der Mathematik, sondern ergeben sich zumeist aus den Anwendungen selber, zum Beispiel der natürlich auftretenden Messungenauigkeit in der Physik.

Mathematik besteht für viele aus komplizierten Formeln und abstrakten Ergebnissen. Warum sollte das den normalen Menschen interessieren?
Ganz einfach: Es steckt überall drin. Schon alleine, wenn es um Geld geht, sollte man rechnen können. Aber es gibt noch sehr viele andere Anwendungen, in denen Mathematik benötigt wird, die auf Mathematik aufbauen. Beispiele sind Computer und Digitalisierung. Hier fallen viele Daten an. Um sie auszuwerten, braucht man Mathematik. Versteht man Mathematik, hat man eine gute Grundlage, um zu verstehen, wie etwas funktioniert.

In dem Projekt „#MOIN“ geht es ja speziell um Industriemathematik. Wo liegt der Unterschied zur allgemeinen Mathematik?
Die reine Mathematik sind Beweise und Zusammenhänge zwischen Zahlen. Viele Anwendungen beruhen darauf. Die Industrie- oder auch Technomathematik befasst sich mit der Lösung von Problemen durch den Einsatz mathematischer Methoden in Wirtschaft, Medizin, Forschung und Technik. Da geht es beispielsweise darum, Prozesse zu beschreiben und zu optimieren.

Beispiel Computertomografie: Wo versteckt sich dort die Mathematik? Ist das nicht eher Physik oder Medizin?
In dieser Technik ist alles mit drin. Das ist richtig. Man braucht Physik für die Messtechnik und Medizin zur Deutung des Ergebnisses. Aber um aus den gemessenen Signalen ein Bild zu erstellen, dafür braucht man Mathematik. Der Ausgangspunkt ist ein kleines Signal mit Rauschen, denn man will die Strahlenbelastung für den Patienten gering halten. Um das zu einem Bild umzurechnen, löst man ein sogenanntes inverses Problem. Inverse Probleme waren auch Inhalt meiner Doktorarbeit. Dabei ging es aber um die Bestimmung von Treibhausgasquellen aus atmosphärischen Messungen. Bei inversen Problemen müssen die Informationen aus der Messung mit zusätzlichem Wissen über die Anwendung kombiniert werden. Diese Verfahren werden in der Mathematik weiterentwickelt und verbessern die Qualität der Röntgenbilder, führen zu schärferen Röntgenbildern.

Mathematiker sind männlich - so ist die allgemeine Meinung. Wie sieht es mit Frauen in diesem Bereich aus?
Es scheint so zu sein, dass sich weniger Frauen im Bereich Mathematik wiederfinden. Bei mir im Studium waren von 20 bis 25 Leuten nur fünf Frauen. Später, in einigen Arbeitsgruppen war es aber auch ausgeglichener. Ich denke, heutzutage wird besonders in einigen kleineren Unternehmen darauf geachtet, dass das Verhältnis Männer zu Frauen eher ausgeglichen ist.

Warum denken Sie, ist Mathematik so wenig interessant für Frauen?
Das ist eine schwierige Frage, auf die ich ehrlich gesagt keine Antwort weiß. Ich denke aber, dass das Interesse bei Frauen an der Mathematik durchaus da ist. Vielleicht haben interessierte Frauen aber auch eher noch andere Interessen, die letztlich dafür sorgen, dass sie es nicht studieren. Vielleicht fehlen auch Vorbilder.

Was müsste geschehen, damit sich das ändert?
Erst einmal sollte man nicht nur Frauen, sondern alle für Mathematik begeistern. Und es ist wichtig, die Anwendungsmöglichkeiten aufzuzeigen - und das auch bereits in der Schule und auch im Studium. So arbeiten Mathematiker ja in der Praxis auch mit Ingenieuren und Medizinern zusammen. Das gilt es, besser aufzuzeigen. Es kommt darauf an, einen Zugang zu finden, zu zeigen, dass Mathematik in der Anwendung interessant für alle ist.

Warum muss der Ruf der Mathematik allgemein verbessert werden? Wie nutzt das der Region?
Wir leben in einer zunehmend digitalisierten Welt. Das wollen die meisten so, denn es vereinfacht vieles. Es geht um eine Menge Daten und um deren Vernetzung. Bei der Verwaltung und der Analyse von großen Datenmengen wird Mathematik benötigt. Für die Region ist auch die mathematische Optimierung ein großes Thema. Das ist insbesondere für Unternehmen wichtig, denn eine Optimierung von Prozessen spart Finanzen, Energie und Ressourcen. Ein weiterer Aspekt ist der technische Fortschritt. Ich blicke da insbesondere auf die Tech-Firmen im Silicon Valley in den USA. Diese sammeln Daten, bereiten sie auf und bieten damit ganz neue Produkte an. Das wäre auch eine Chance für unsere Region.

Wie will das Projekt „#MOIN“ den Ruf der Mathematik verbessern?
Es geht darum, Mathematik nach außen zu tragen: in die Gesellschaft, beispielsweise mit Tagen der offenen Tür, an denen Anwendungen gezeigt werden, in Schulen und auch in die Hochschulen, aber auch in die Unternehmen. In Letzteren kommen sogenannte Innovationsscouts zum Einsatz. Ich bin einer von ihnen. Wir beraten Unternehmen, wo sie mithilfe von Industriemathematik Fortschritte erzielen können.

Die BIS ist für Bremerhaven Projektpartner. Warum ist das für die Seestadt wichtig? Wie hilft es dem Standort und der Wirtschaft?
Das Projekt soll regionalen Unternehmen helfen, innovative Produkte, Verfahren und Dienstleistungen auf Basis der Industriemathematik zu entwickeln. Es geht darum, bei Projekten weiterzuhelfen, in denen Ingenieure alleine nicht weiterkommen. Und das bringt auch den Standort voran. Mögliche Einsatzfelder sind die Automatisierung und die Autonomisierung von Prozessen. Da geht es beispielsweise um die Automatisierung oder autonomes Fahren in den Häfen - ein Zukunftsthema. „#MOIN“ soll helfen, zukunftsfähige Arbeitsplätze in der Region zu erhalten und neue zu schaffen.

Ein Punkt ist die Kooperation mit den Schulen. Was ist hier geplant?
Es gibt in diesem Bereich ja schon diverse Angebote. Aber es sollen noch mehr dazukommen. So soll es beispielsweise Forschertage geben. Diese sind im Digital Hub Industry in Bremen angesiedelt. Hier werden Schulklassen für eine Halbtagesveranstaltung eingeladen. Angeboten werden sollen neben Veranstaltungen auch welche in den Bereichen Robotik, autonome Systeme und automatische Systeme sowie künstliche Intelligenz. Schülerinnen und Schüler sollen selber etwas ausprobieren und die Anwendung der Mathematik bei konkreten Problemen kennenlernen. So wird beispielsweise eine Sandkiste aufgebaut und eine Landschaft mit Hügeln und Bergen modelliert. Darüber schwenkt eine Kamera. Werden nun ein Startpunkt und ein Ziel definiert, wird der optimale Weg berechnet.

Und auch die Öffentlichkeit soll mitgenommen werden. Wie das?
Es muss einfach mehr Werbung gemacht werden. Mathematiker arbeiten häufig für sich selber, stellen höchstens mal Projekte in Arbeitsgruppen, in Instituten und auf Fachkongressen vor. Aber hier sind immer nur Wissenschaftler beteiligt. Das muss sich ändern. Die Projekte müssen nach außen getragen werden - und das so, dass die Allgemeinheit es auch versteht. Dazu haben wir verschiedene Demonstratoren wie die genannte Sandkiste. Wir brauchen eine gute Öffentlichkeitsarbeit, um eine Breitenwirkung zu erzielen und die Gesellschaft für die Wichtigkeit unserer Arbeit zu sensibilisieren.

Zur Person
Nils Hase (36) ist seit Mai 2023 bei der Bremerhavener Wirtschaftsförderungsgesellschaft BIS als Innovationsscout beschäftigt. Er kümmert sich dabei um das Projekt „#MOIN“. Hase studierte von 2007 bis 2013 Technomathematik an der Universität Bremen mit den Nebenfächern Informatik, Physik und Umweltphysik. 2013 bestand er sein Diplom. Danach arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Zentrum für Technomathematik und am Institut für Umweltphysik der Universität Bremen. Dabei betreute er verschiedene Lehrveranstaltungen, Bachelorarbeiten und studentische Projekte. Seine Doktorarbeit behandelt die Bestimmung von Methanquellen aus atmosphärischen Messungen. Im Zuge dessen war er mehrere Monate zu Gast an Instituten in den USA. Es folgten weitere Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter und in der Lehre an der Universität Bremen, unter anderem kümmerte er sich um den Mathe-Lernraum.

Modellregion für Industriemathematik
Das Forschungs- und Transferprojekt „#MOIN“ verfolgt die Vision, dass jeder von dem universellen Wissen der (Industrie)-Mathematik profitieren kann. Es steht die reale, nützliche Anwendung im Mittelpunkt und dient als Triebfeder für neue Innovationen, für die Anforderungen digitaler Methoden einer modernen Industriemathematik im 21. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund sind die Ziele von „#MOIN“ der Transfer von neuem industriemathematischen Know-how in die Wirtschaft sowie die Erzielung einer großen Breitenwirkung zur Sensibilisierung der Gesellschaft für die Bedeutung der Mathematik.

Die strategische Zielsetzung von „#MOIN“ ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, um für regionale Unternehmen innovative Produkte, Verfahren und Dienstleistungen auf Basis zertifizierbarer industriemathematischer Algorithmen zu entwickeln. Aber auch, um eine Breitenwirkung durch innovative Öffentlichkeitsarbeit zu erzielen. Dadurch sollen zukunftsfähige Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden.

„#MOIN“ ist ein Projekt der Universität Bremen mit Partnern wie dem Landkreis Osterholz, der Senatorin für Wirtschaft, Häfen und Transformation, der Bremerhavener Wirtschaftsförderung BIS und bremischen Wirtschaftsunternehmen. Es ist am 1. April 2023 gestartet und läuft bis zum 31. März 2026. Es hat ein Projektvolumen von sechs Millionen Euro und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Bildmaterial

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