Startseite Leichte Sprache Gebärdensprache

Die blaue Revolution kann kommen

Aquakultur ist die kontrollierte Aufzucht, Haltung und Vermehrung von aquatischen Organismen. Weltweit hat sie die Fischerei als Quelle zur Nahrungsversorgung bereits seit 2014 eingeholt. Und die Nachfrage nach den gesunden und nachhaltigen Meeresprodukten wächst immer weiter.

03.10.2022
Autor: Marc Alexander Wagner

AWI Aquakulturzentrum 

Bei der Erforschung dieser Zukunftstechnologie ist Bremerhaven mit dem Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) samt des Zentrums für Aquakulturforschung (ZAF), mit dem Thünen-Institut für Fischereiökologie und mit dem Techologie-Transfer-Zentrum (ttz) bereits bestens aufgestellt.

Die globale Aquakultur verzeichnet erstaunliche Wachstumsraten von durchschnittlich 6 Prozent pro Jahr. Keine andere Produktion tierischer Eiweiße kann da mithalten. Die Rede ist von der „blauen Revolution“. An dieser Entwicklung möchte nun endlich auch Deutschland
teilhaben. Ende 2020 wurde darum der Nationale Strategieplan Aquakultur (NASTAQ) für die Jahre 2021-2030 aktualisiert, der die Stärken, aber auch die aktuellen Probleme der einheimischen Aquakultur aufgreift und Konzepte für eine zukunftssichere Ausrichtung der Branche aufführt. Es geht um den Abbau von Verwaltungshürden, Fragen der Raumplanung, um Wettbewerbsfähigkeit und um hohe Qualitäts-, Gesundheits- und Umweltstandards. Geschrieben hat den NASTAQ eine Arbeitsgruppe der Länder und des Bundes – und das Bremerhavener Thünen-Institut für Fischereiökologie.

Anwendungsorientierte Aquakulturforschung steht im Mittelpunkt

Bremerhaven ist ein wichtiger Standort der anwendungsorientierten Aquakulturforschung. Das Alfred-Wegener-Institut (AWI) nutzt sein Wissen aus der Meeres-Grundlagenforschung, um daraus gezielt und anwendungsnah Nutzen für die Wirtschaft zu entwickeln.
Gleich zwei Forschungsgruppen – „Marine Aquakultur“ und „Aquakulturforschung“ – decken gemeinsam das breite Themenspektrum für die Entwicklung einer umweltbewussten, nachhaltigen Aquakultur ab. Das Zentrum für Aquakulturforschung (ZAF) des AWI bietet dafür eine moderne und vielseitige Infrastruktur.
Das Thünen-Institut für Fischereiökologie geht in seinem Arbeitsbereich Aquakultur die technischen, ökologischen sowie sozio-ökonomischen Herausforderungen der Branche an. Die Infrastruktur im erst 2018 fertiggestellten Institutsneubau im Fischereihafen ist auf dem modernsten Stand.
Auch das ttz Bremerhaven bringt seine Expertise und die Ausstattung seines Technikums im Fischereihafens in die Aquakulturforschung ein. Das ttz hat sich besonders spezialisiert auf die für Aquakulturanlagen elementaren Prozesse zur Wasseraufbereitung, -überwachung und -wiederverwendung sowie auf innovative Alternativen für die Futtermittelherstellung.

AWI, Thünen-Institute und das Technologiezentrum ttz arbeiten eng zusammen

Die drei Forschungseinrichtungen arbeiten – häufig mit Partnerfirmen aus der Fischwirtschaft – in zahlreichen Projekten an einer wirtschaftlicheren, nachhaltigeren, tiergerechteren und klimafreundlicheren Aquakultur. Dabei geht es auch um ganz grundlegende Fragen: Wissenschaftler:innen der drei Thünen-Institute für Fischereiökologie, Seefischerei und Betriebswirtschaft untersuchen laufend die Kostenstrukturen unterschiedlicher Produktionssysteme in der Aquakultur und Fischerei weltweit. Als Teil des globalen Netzwerkes agri benchmark stehen die Daten Wissenschaft und Wirtschaft zur Verfügung.
Genauso grundlegend ist die Standortfrage, vor allem für Aquakulturen im Meer. Ein Ansatz ist dabei „Multi-Use“, also die Kombination multipler Nutzungsformen – wie Offshore-Windenergie, Fischerei, Aquakultur oder Meeresnaturschutz – in demselben geographischen Gebiet.

Das AWI ist Teil des EU-Projektes MUSES (Multi-Use in European Seas), bei dem zehn Partner aus sieben Ländern eine europaweite Analyse zu möglichen Synergien oder Konflikten durchführen. Die Bremerhavener Forschungsexpertise ist auch über Europa hinaus gefragt. Mit deutschen und vietnamesischen Partnern untersucht das Thünen-Institut für Fischereiökologie eine Mehrfachnutzung der dortigen Aquakulturen durch Photovoltaik. Mit dem iranischen Fischereiforschungsinstitut entwickeln die deutschen Forscher:innen umweltverträgliche Futtermitteln aus nachhaltigen und lokal verfügbaren Ressourcen. Mit Partnern in Neuseeland hat das AWI ein System für die Muschelzucht in Open Ocean Aquaculture (OOA) entwickelt, um neue Flächen im offenen Ozean zu erschließen.

Umweltvertäglichkeit und Nachhaltigkeit

Viele Forschungsprojekte zielen auf eine höhere Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit der Aquakulturen ab. So haben sich Forscher aller Einrichtungen mit Alternativen in der Fischfutter-Herstellung beschäftigt, um zum Beispiel das Fischmehl durch andere Proteinträger wie Kreatin zu ersetzen. Auch das Tierwohl steht im Fokus der Forscher:innen. Am Thünen- Institut für Fischereiökologie wurde eine Methode entwickelt, das Verhalten von Regenbogenforellen anhand von Chips und Bewegungssensoren auszuwerten und so automatisch Stressfaktoren
zu identifizieren. Im Projekt MonitorShrimp bringt das AWI mit Industriepartnern eine auf Künstlicher Intelligenz basierende Auswertung von Video und Audio in die Garnelenzucht. So werden automatisch die Biodaten aller einzelnen Garnelen erfasst. An die Stelle ungenauer Fütterungstabellen und damit einer möglichen Überfütterung kann mit der Software dann anhand der exakt berechneten Biomasse gefüttert werden.

Mit Ultraschallwellen rücken die Forscher:innen am ZAF den Bakterien in Aquakulturen zu Leibe. Mit Hilfe dieser absolut sauberen Technik wollen sie geschlossene Wasserkreisläufe erschaffen, die auf den Einsatz von Chemie verzichten können. Sie suchen dabei die ideale Frequenz, die den Fischen nichts ausmacht, aber Bakterien und Schädlinge abtötet.

Die Bremerhavener Aquakulturforschung geht aber auch weit über Fisch und Meeresfrüchte hinaus: So arbeiten Wissenschaftler:innen am ZAF daran, im Projekt „MedSpon“ Schwämme in landgestützter Aquakultur zu züchten. Denn diese Meereslebewesen enthalten Collagen und andere Inhaltsstoffe, die von den Projektpartnern in Medizin, Nahrungsmitteln und Kosmetik genutzt werden können. Und auch für Makro- und Mikroalgen eröffnen sich immer neue Anwendungsfelder. In Bremerhaven erforscht unter anderem das Institut EcoMaterials der Hochschule ihren Einsatz als Ersatz für viele fossile Rohstoffe. Die Forscher:innen gehen auch schon einen Schritt über Aquakulturen hinaus. In einem von der BIS mit REACT-Mitteln geförderten Verbundprojekt loten das Kaesler Research Institute der Kaesler Nutrition GmbH und das Thünen-Institut für Fischereiökologie die Möglichkeiten von In-Vitro-Fischfleisch aus. Zum Fisch aus Aquakulturen könnte sich in Zukunft also auch der Fisch aus Zellkulturen gesellen.

HINTERGRUND

Aquakultur in Zahlen

Der Hauptgrund für den globalen Erfolg von Aquakulturen liegt in der wachsenden Nachfrage nach den gesunden Lebensmitteln aus dem Meer, die mit den stagnierenden Erträgen des „Wildfangs“ nicht gedeckt werden können. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland rund 1,1 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte (Fanggewicht) verzehrt, pro Kopf sind dies 12,7 Kilogramm. Doch der hiesige Appetit muss zum allergrößten Teil aus Importen gestillt werden.

Die deutsche Eigenproduktion lag laut des Fisch-Informationszentrums 2021 bei nur rund 209.000 Tonnen (Fanggewicht), etwa 175.000 Tonnen waren Fänge der deutschen Seefischerei, 2.300 Tonnen der Binnenfischerei. Rund 32.700 Tonnen steuerten die deutschen Aquakulturen bei – das macht sie zu einem kleinen Erzeuger im internationalen Vergleich. Weltweit wurden 2020 rund 87,5 Millionen Tonnen aquatische Tiere und weitere 35,1 Millionen Tonnen Seetang und Algen in Aquakulturen produziert.

Als PDF herunterladen