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Auf Biegen und Brechen

Lang wie ein Fußballfeld, schwer wie zehn afrikanische Elefanten – und für eine klimaneutrale Stromerzeugung unverzichtbar: Das sind die Rotorblätter der nächsten Generation von Windkraftanlagen. Damit sie die Welt jahrzehntelang mit Energie versorgen können, werden die „Flügel“ mit mehr als 120 Metern Länge künftig in Bremerhaven buchstäblich auf Biegen und Brechen getestet. Die Forschungseinrichtung Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES baut dort den derzeit größten Rotorblatt-Prüfstand der Welt.

25.10.2022
Autor: Wolfgang Heumer

Der Anblick ist atemberaubend. Wie die Tragfläche eines Jumbo-Jets schwebt das einige dutzende Meter lange Rotorblatt waagerecht in der riesigen Halle. Sein „dickes Ende“ ist mit einer Vielzahl von Schrauben an einem massiven Block angeschraubt. Die freischwingende Blattspitze biegt sich unterdessen von einem senkrecht wirkenden Mechanismus in ruhiger Regelmäßigkeit jeweils mehrere Meter nach oben und unten. „Das machen wir jetzt monate-, wenn nicht sogar mehr als ein Jahr lang“, sagt Dr. Ing. Steffen Czichon, als sei dies das Selbstverständlichste der Welt. In dieser und einer weiteren Halle prüft und zertifiziert das Fraunhofer IWES in Bremerhaven die Haltbarkeit und Zuverlässigkeit von bis zu 90 Meter langen Rotorblättern für die größten Windenergieanlagen der Welt. Mit dem Bau eines dritten Prüfstandes gleich nebenan bereitet sich das Institut auf den nächsten großen Schritt in die Zukunft der klimaneutralen Stromerzeugung vor. „Dort werden wir Blätter mit einer Länge von mehr als 120 Metern prüfen können“, sagt Czichon, der die IWES-Abteilung Rotorblätter leitet.

Für den Wachstumsschub bei den Rotorblättern gewappnet

Innerhalb weniger Jahre hat sich die Windkraft-Nutzung zu einer der tragenden Säulen der Energieversorgung in Deutschland entwickelt. Das wird auch bei einem Rundgang auf dem IWES-Betriebsgelände in Bremerhaven deutlich. 2009 wurde hier der erste Prüfstand für bis zu 70 Meter lange Rotorblätter in Betrieb genommen, nur zwei Jahre später waren die Blattlängen bereits auf bis zu 90 Meter gewachsen – entsprechend nahm das IWES 2011 die nächstgrößere Testanlage in Betrieb. In den vergangenen Jahren konzentrierte sich die Industrie auf eine bessere Leistungsfähigkeit der Windturbinen und Generatoren, das IWES leistete seinen Beitrag mit einem einzigartigen Großprüfstand für die Gondel. Inzwischen erreichen die modernsten Windenergieanlagen eine Leistung von 15 Megawatt. Nun befinden sich die Rotorblätter im nächsten Wachstumsschub. „Je größer die vom Rotor überstrichene Fläche ist, desto größer ist auch die Windernte und damit die Ausbeute an Elektrizität“, bringt es Dr. Ing. Steffen Czichon vereinfacht auf den Punkt.

Rotorblätter sind jahrzehntelang enormen Belastungen ausgesetzt

Entscheidend für den dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg der klimafreundlichen Stromerzeuger ist neben der Länge auch die Lebensdauer der Rotorblätter. Hier setzt die Arbeit des IWES an, das wie alle Fraunhofer-Institute einen Schwerpunkt in der angewandten Forschung hat. „Wir prüfen auf unseren Testständen im Auftrag der Industrie, ob die Rotorblätter in der Praxis den Daten und Erwartungen aus der Entwicklung entsprechen“, erläutert Czichon. Die Expertinnen und Experten vom aus Bremerhaven interessieren sich in erster Linie für die Materialeigenschaften der Blätter: „Sie sollen schließlich 20 bis 30 Jahre halten und sind während dieser Zeit enormen Belastungen ausgesetzt“, betont Czichon. Die 50 bis 60 Tonnen schweren Blätter müssen neben ihrem Eigengewicht auch den enormen Biegemomenten durch die Windlasten standhalten. „Das müssen nicht nur die Verbindungen aushalten, sondern das belastet natürlich auch die gesamte Struktur der Blätter“, so Czichon.

Auf dem Prüfstand den kompletten Lebenszyklus eines Blattes simuliert

Ob die Laminatstrukturen der aus Faserverbundstoffen und Harz gefertigten Blätter den Belastungen standhalten, lässt sich in der Theorie berechnen. Doch Gewissheit bringen nur praktische Tests, für die das IWES in Bremerhaven Expertise und Infrastruktur entwickelt hat. Auf den bald drei Großprüfständen ist dafür vor allem Geduld erforderlich. „Wir simulieren in den Tests den kompletten Lebenszyklus eines Rotorblattes – allerdings stark beschleunigt“, beschreibt Czichon die Arbeiten. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Blatt unter Umständen einige Millionen Mal auf und ab schwingen muss. „Es kann durchaus sein, dass ein solcher Test ein Jahr und länger dauert“, sagt Czichon. Erst wenn alle Tests abgeschlossen und ausgewertet sind, bekommt das Rotorblatt ein Zertifikat, das für die Serienfertigung und den Einsatz notwendig ist. Zwischenergebnisse erlauben es dem Auftraggeber aber, einen ersten Prototyp seiner neuen Windenergieanlage zu errichten und auch das Gesamtsystem aus Turm, Gondel, Rotor und Generator in der Praxis zu erproben.

19 Millionen Euro teurer Prüfstand auf weiteres Wachstum vorbereitet

Die technische Ausstattung des neuen Prüfstandes lässt erahnen, welche Kräfte bei den Versuchen in Bremerhaven wirken. Allein der Stahlblock für die Befestigung des Rotorblatt-Flansches wiegt gut 840 Tonnen. „Wenn die Blätter künftig noch länger und schwerer werden, können wir den Block durch zusätzliche Stahlelemente noch verstärken“, macht der IWES-Experte auf einen der besonderen Aspekte des Prüfstandes aufmerksam. Ein weiteres innovatives Element: „Das Blatt wird erstmals nicht direkt an dem Block, sondern an einer Art Drehteller befestigt, so dass wir Belastungen aus unterschiedlichen Winkeln simulieren können, ohne das Blatt aufwendig neu installieren zu müssen.“ Außerdem ist der rund 19 Millionen Euro teure Prüfstand so konzipiert, dass er an ein weiteres Längenwachstum mit vergleichsweise geringem Aufwand angepasst werden kann. „Angesichts des rasant wachsenden Bedarfs an sauberer Energie ist fest mit noch größeren Anlagen zu rechnen“, ist Czichon überzeugt. Der aktuell noch im Bau befindliche Rotorblatt-Prüfstand wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit 14,8 Millionen Euro und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Land Bremen und EFRE mit vier Millionen Euro gefördert.

Dänischer Hersteller lässt XXL-Rotorblatt in Bremerhaven prüfen

Noch ist der Bau in der Seestadt nicht abgeschlossen, aber schon heute steht fest: Bereits der erste Auftrag für den Prüfstand wird ein Superlativ sein. Der dänische Windkraftanlagenhersteller Vestas wird dort ein 115,5 Meter langes XXL-Rotorblatt für seine neue Windenergieanlage V236-15.0 MW testen lassen, die für den Offshore-Einsatz auf der ganzen Welt entwickelt wurde. Laut Vestas gibt es derzeit branchenweit keine Anlage, deren Rotor eine größere Fläche überstreicht. „Wir freuen uns darauf, gemeinsam mit dem Fraunhofer IWES den für uns notwendigen Rotorblatttest unseres Prototypen V236-15.0 MW mit einem Rotordurchmesser von 236 Metern durchzuführen, damit wir gesichert in die für 2024 geplante Serienproduktion starten können”, sagt Christian Fenselau, Chief of Test and Verification bei Vestas.

Kontakt für Redaktionen:

Dr. Steffen Czichon, Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES, Abteilungsleiter Rotorblätter, Mail: steffen.czichon@iwes.fraunhofer.de, Tel. 0471 14290 383.

Bildmaterial:

Das Bildmaterial ist bei themengebundener Berichterstattung und unter Nennung des jeweils angegebenen Bildnachweises frei zum Abdruck.

Foto 1: Am Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme IWES in Bremerhaven entsteht derzeit der größte Rotorblatt-Prüfstand der Welt. © Jörg Sarbach

Foto 2: „Rotorblätter sollen 20 bis 30 Jahre halten und sind während dieser Zeit enormen Belastungen ausgesetzt“, sagt Dr. Ing. Steffen Czichon, der am IWES in Bremerhaven die Abteilung Rotorblätter leitet. © Jörg Sarbach

Foto 3: Damit sie die Welt jahrzehntelang mit Energie versorgen können, werden die Rotorblätter in Bremerhaven buchstäblich auf Biegen und Brechen getestet. © Jörg Sarbach

Foto 4: Auf dem neuen Prüfstand am IWES in Bremerhaven sollen Rotorblätter mit einer Länge von mehr als 120 Metern geprüft werden. © Jörg Sarbach
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